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Für die Iraker ist der Krieg noch nicht zu Ende

Bericht von Eva-Maria Hobiger

Für einen Nichtiraker ist es im Juni 2004 gar nicht so leicht, den Irak zu besuchen. Wenige Tage vor der "Machtübergabe" ist der Irak ein Tummelplatz von Widerstandskämpfern, Terroristen und Kriminellen. Statt der versprochenen Demokratie herrscht Anarchie. Der Irakkrieg, der im Rahmen des "Krieges gegen den Terror" geführt wurde, hat den Terror in den Irak gebracht. Die Welt, die sicherer gemacht werden sollte, hat einen Brandherd mehr, der noch immer die Potenz in sich trägt, sich unversehens in einen Flächenbrand auszuweiten.

Auf der Internetseite des österreichischen Außenministeriums kann man zu diesem Zeitpunkt lesen: "Die Sicherheitssituation im Irak hat mit einer ganzen Reihe von blutigen Attentaten und Entführungen einen neuen Tiefstand erreicht". Vor Reisen in den Irak wird ausdrücklich gewarnt. Selbst dringende Reisen sollten besser bis zu einer wesentlichen Änderung der Sicherheitslage aufgeschoben werden.

Es gibt Reisen, die nicht aufschiebbar sind und diese zählte dazu: zu viele Menschenleben hingen von ihr ab. 8,5 Tonnen medizinische Hilfsgüter mussten nach Basra gebracht werden - dringend benötigte Medikamente für kranke Kinder. Für die Anreise nach Bagdad gibt es zwei Möglichkeiten: entweder über die Autobahn von Jordanien aus oder aber mit dem Flugzeug. Beides gleicht Ende Juni, kurz vor der "Machtübergabe" im Irak, einem russischen Roulette und so buchten wir, zahllose Warnungen missachtend, einen Flug von Amman nach Bagdad. "Der Landeanflug in Bagdad dient Ihrer Sicherheit, nicht aber Ihrem Wohlbefinden!" meinte der Pilot der 16sitzigen Beechcraft sachlich. In sieben engen Spiralen steigt das Flugzeug in einem abenteuerlichen Neigungsgrad direkt über dem Flughafengelände in kürzester Zeit ab. Diese Lande- (und auch Start-) technik wurde im Vietnamkrieg entwickelt und soll verhindern, dass das Flugzeug von Raketen getroffen werden kann.

Die Todesstraße - so wird das Straßenstück zwischen Flughafen und der Stadtgrenze genannt. Unzählige Überfälle gab es hier, viele verloren hier ihr Leben in den letzten Wochen. Die Taxifahrer lassen sich dieses Risiko mit 50 Dollar bezahlen. Es handelt sich um ein relativ kurzes Straßenstück, kaum vorstellbar, dass es nicht gesichert werden könnte. "Wir haben schon lange aufgehört zu fragen, warum die Amerikaner dieses oder jenes tun oder nicht tun." meint der Taxifahrer resignierend. Und er erzählt gleich die neuesten Nachrichten von heute morgen: Anschlag vor dem Rekrutierungszentrum der irakischen Armee, eine Bombe tötete 40 Menschen, Hunderte Verletzte hätte es gegeben.

"Das Leben in Bagdad ist miserabel"

Statistisch gesehen gibt es alle fünf Jahre einen "Megastau" in Wien, so konnten wir vor kurzem in den Tageszeitungen lesen. In Bagdad gibt es den Megastau jeden Tag. Gründe dafür gibt es mehrere: die wichtigste Ursache ist zweifellos die Tatsache, dass die Amerikaner im Zentrum von Bagdad ihre "grüne Zone" festungsartig errichtet haben. Sie umfasst einige Quadratkilometer und zwingt den Verkehr zu weiten Umwegen, selbst eine der Brücken über den Tigris ist für den normalen Verkehr gesperrt. Weitere kurzfristig verhängte Straßensperren, ausgefallene Ampelanlagen und Mangel an Verkehrspolizisten verschärfen das Chaos nur noch. Bagdad macht einen zunehmend verwahrlosten Eindruck. Abwässer in den Straßen, bestialischer Gestank, Müllberge überall. Der Mittelstreifen zwischen den Fahrbahnen ist in ganz Bagdad zur Müllhalde umfunktioniert.

15 Monate nach dem Fall des Regimes funktioniert die Energieversorgung noch immer nicht. Den elektrischen Strom gibt es jeweils nur drei Stunden lang, während der nächsten drei Stunden ist man auf den Generator angewiesen - wenn man einen hat. Der Generator ist der Lebensmittelpunkt für viele geworden, er bestimmt den täglichen Gesprächstoff, er ist Grund für Nachbarschaftsstreitigkeiten, aber auch für die Verbesserung von Nachbarschaftsbeziehungen. Der Lärm der Generatoren gehört mittlerweile zu den irakischen Städten. Eine eigene Polizei zum Schutz der Generatoren und elektrischen Einrichtungen wurde gegründet. Die Bevölkerung ist verdrossen wegen der schlechten Stromversorgung, oft genug gibt es auch kein Wasser, wenn es keinen Strom gibt. Das wäre Teil der Strategie, meinen die meisten. Niemand glaubt, dass es nicht möglich gewesen wäre, die Stromversorgung des Landes zu sichern - schließlich hätte Saddam das in wesentlich kürzerer Zeit und unter schlechteren Voraussetzungen geschafft - nein, ein gedemütigtes, schwaches irakisches Volk, das mit dem bloßen Überleben beschäftigt ist, das wäre das Ziel der amerikanischen Politik. Solange die Lage instabil wäre, solange die Sicherheitslage so schlecht wäre, könne man ungehindert das Öl stehlen, denn niemand frage danach - der Grundtenor der irakischen Bevölkerung im Juni 2004. Die überwiegende Mehrzahl der Iraker lehnen die Gewalt ab, wenn es aber Anschläge auf die Pipelines gibt und die Ölförderung für einige Tage unterbrochen ist, dann freuen sich selbst die friedliebendsten Bürger dieses Landes. Denn: "Unser Öl gehört uns ohnehin nicht mehr!"

Endlich Frieden und Sicherheit - der Wunschtraum der Iraker

Gewalt bestimmt das Leben der Iraker, bestimmt ihren Alltag. Die Sicherheitslage ist in der Tat dramatisch und die Gefahr ist ständiger Begleiter. Die Bombenanschläge, die man oft in der ganzen Stadt hört, sind Alltag, ebenso Mord, Raub, Entführungen, Erpressung, aber auch nervöse amerikanische Soldaten, die ungezielt um sich schießen - alles das hat im Laufe der letzten 15 Monaten stetig zugenommen. Der größte Fehler, der seitens der Besatzungsmächte begangen werden konnte, war die Auflösung der Polizei und des Militärs unmittelbar nach Kriegsende. Das so entstandene Machtvakuum wurde von kriminellen Elementen aufgefüllt. Den Plünderungen von Waffenlagern wurde tatenlos zugesehen, ebenso dem Verkauf von Waffen aller Art auf öffentlichen Plätzen. Als man damit begann, dies zu unterbinden, war es bereits viel zu spät. Die Lage war längst außer Kontrolle geraten. Heute sieht man in Bagdad Plakate, auf denen die Bevölkerung aufgefordert wird, sich bei Gewalttaten an die Polizei zu wenden, man wirbt um das Vertrauen der Menschen. Die Plakate sind oft mit Aufklebern versehen, die einen Totenkopf und Särge zeigen, die mit amerikanischen Flaggen bedeckt sind. Die neue Polizei besitzt keine Autorität, was auch kaum verwunderlich ist. Um Polizist zu werden, bedurfte man keiner Qualifikation, einziger Ausschließungsgrund war eine frühere Mitgliedschaft in der Baath-Partei, selbst 16jährige (die vorgaben, 20 zu sein) wurden aufgenommen. Es folgte eine 30tägige Schulung und schon war man Polizist. In einem Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung arbeitslos ist, gibt es regen Andrang zu diesem "Job" und dies trotz aller Risken, die er mit sich bringt.

Der irakische Regierungsrat, von den Amerikanern eingesetzt, genießt kein großes Prestige in der Bevölkerung und auch von der Übergangsregierung erwartet man sich nicht viel. "Wir werden von 24 Räubern regiert" lautet die weit verbreitete Meinung, diese würden sich im Stehlen gegenseitig übertreffen. Die Gelder, die da verschwunden wären, hätten sich in astronomischen Höhen bewegt. Alle klagen über die Korruption, die ein ungeahntes Ausmaß erreicht habe. Keine Gelegenheit zu unverschämten Geldforderungen bleibe ungenützt, der Geldhunger vieler in Schlüsselpositionen sei unstillbar. Und auch die Amerikaner sind nicht untätig, was Geld betrifft: Von 20,5 Milliarden Dollar an Staatsgeldern, die vor allem aus Öleinnahmen stammen, hat die US-Zivilverwaltung 17,6 Milliarden bereits gebunden oder ausgegeben. Es gibt keine Transparenz, was mit diesem Geld geschah. Ganze 2,9 Milliarden sind noch für die irakische Übergangsregierung übrig. Viel ist das nicht für den Wiederaufbau eines Landes, in dessen Infrastruktur seit dem Golfkrieg 1991 nicht mehr investiert wurde.

Die Versorgungslage in den Spitälern sei schlecht, sagen die Ärzte. Eine ernste Krankheit in Bagdad zu bekommen, bedeute das Todesurteil, meint der Mann von der Straße. Die Versorgung von chronisch Kranken ist kaum möglich und ein großes Problem stellt die Erstversorgung der vielen Verletzten dar, die infolge der Bombenanschläge in die Spitäler eingeliefert werden. Man käme mit den Operationen nicht nach und auch das Material reiche nicht. Begehrte Ziele von Kidnappern wären Ärzte, von deren Familien werden Lösegelder in der Höhe von 50.000 bis 100.000 US-Dollar gefordert, bei berühmten Ärzten auch mehr. Das Ergebnis ist, dass unzählige Ärzte den Irak verlassen, was einer Katastrophe für die Versorgung der Bevölkerung gleichkommt, da bereits in den letzten Jahren unzählige hochqualifizierte Fachkräfte das Land verlassen hatten. Frühere Klinikvorstände - die zwangsläufig Baath-Parteimitglieder waren - wurden von den Amerikanern ihrer Stellung enthoben. Während sie nun arbeitslos zu Hause sitzen, fehlt ihr medizinisches Können in den Spitälern. Der Mangel an administrativen Strukturen in den Gesundheitseinrichtungen verhindert eine dem Bedarf gemäße Versorgung der Spitäler in Bagdad, noch viel mehr aber in der Peripherie des Landes. So kann es vorkommen, dass eine Kinderkrebsabteilung in Basra seit Kriegsbeginn im Vorjahr noch kein einziges Medikament erhalten hat.

In der 560 km südlich von Bagdad gelegenen Stadt Basra hat sich die Trinkwasserversorgung erneut verschlechtert. Nur mehr 40 % des Wasserbedarfs der Stadt können aus dem Leitungsnetz gedeckt werden, 60 % der Bevölkerung wird aus dem Fluss (Schatt el Arab) mit Wasser versorgt, der neben Bakterien auch Giftstoffe enthält, die aus den alten lecken Schiffen austreten. Schwere Durchfallerkrankungen sind im Zunehmen, die Durchfälle führen zu Unterernährung von Kindern. Es gibt Stadtteile, in denen es rund um die Uhr keinen Strom gibt. Die Generatoren brechen aufgrund des Dauerbetriebes zusammen, Ersatzteile zur Reparatur fehlen. Dies wieder führt zur Verschlechterung der Wasserversorgung, Pumpen fallen aus, Abwässer treten auf die Straßen – eine Spirale, die sich ständig weiter dreht und die Situation immer schlechter werden lässt. Die Versorgungslage in den Spitälern sei sehr schlecht, der Grund wäre der Mangel an Verwaltungsstrukturen, ein schlechter Verteilungsschlüssel für die Provinzen und die Korruption. Im Allgemeinen erhalten die Spitäler höchstens 25 % des tatsächlichen Bedarfs. Narkosemittel sind Mangelware und sie wurden rationiert, die Operationen wurden auf eine einzige pro Chirurg und Woche beschränkt.

11.000 Polizisten hat Basra jetzt - eine stolze Zahl - aber auch sie können nicht verhindern, dass die Angehörigen der Mittelschicht kaum mehr ihre Häuser verlassen können, ohne Gefahr zu laufen, entführt zu werden. Sie können nicht verhindern, dass Menschen, die arbeiten wollen, als Kollaborateure hingerichtet werden: zwei junge Frauen, die für eine amerikanische Firma auf dem Flughafen von Basra arbeiten, werden vor ihrem Wohnhaus erschossen, als sie von der Arbeit heimkehren. Die Polizisten können auch nicht verhindern, dass Bomben vor Spitälern platziert werden und Kindergärten bedroht werden. Ein Kuriosum beschäftigt die Iraker: früher war der Umgang mit Ausländern praktisch untersagt, tat man es trotzdem, musste man mit einer Einvernahme durch den Geheimdienst rechnen. Heute ist es auch nicht ratsam, mit einem Ausländer gesehen zu werden, denn viele Iraker haben dies bereits mit dem Leben bezahlt während der letzen Monate.

Auch wenn im Süden des Landes die Bevölkerung überwiegend schiitisch ist, so hört man oft und liest es auch auf der Straße: "Wir wollen keine islamische Regierung!". Manchmal ist gleich daneben ein Bild des radikalen schiitischen Führers, Moktada al Sadr, angebracht, der aber überraschend wenig Sympathien in der Bevölkerung genießt. Die allgemeine Unzufriedenheit und der Groll gegen die Besatzungsmacht steigen zusehends. Die Iraker fühlen sich betrogen, statt Demokratie kam die Anarchie: "Hier macht jeder was er will". Man fühlt sich übergangen, wenig informiert, ja ausgeschlossen. Der Traum von Freiheit und Demokratie ist verblasst und ist der Resignation gewichen, der Wunsch nach Sicherheit und nacktem Überleben bestimmt das Denken. Immer häufiger werden Vergleiche mit der Zeit vor dem letzten Krieg gezogen und dann kann man selbst im schiitischen Süden hören: "Saddam war die Medizin für unser Volk" oder "Nur Saddam konnte dieses Chaos beherrschen". Die "befreiten" Iraker denken schon fast mit Wehmut an den verhassten Diktator zurück – ein Erfolg, auf den die Koalitionsmächte nicht stolz sein können. Bevor er am 28. Juni fast fluchtartig das Land verließ, sagte der amerikanische Statthalter Paul Bremer in seiner Abschiedsrede: "Ich bin froh über das, was erreicht worden ist und überzeugt, dass die irakische Zukunft voller Hoffnung ist." Für einen Iraker ist der Sarkasmus in dieser Aussage unüberhörbar.


Der "befreite" Irak

Offiziell ist nun die Verantwortung für die Geschicke des Landes in die Hände der irakischen Übergangsregierung gelegt worden. Der Irak wurde ins Chaos entlassen, nicht ohne dass zuvor die amerikanische Zivilverwaltung Verordnungen für die weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes erlassen hätten. Dass diese auch verwirklicht werden, dafür werden nicht zuletzt auch die mehr als 3000 Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft in Bagdad sorgen. Die weltweit größte Botschaft im Irak zu errichten, zeugt von der grenzenlosen Arroganz der US-amerikanischen Politik. Und die 130.000 Besatzungssoldaten, die innerhalb der Grenzen des Irak bleiben werden, werden auch dafür sorgen, dass man es mit der Selbstbestimmung nicht so genau nimmt. Die Lage im Irak ist desolat und für die meisten Iraker, die nach dem Sturz des diktatorischen Regimes Hoffnung geschöpft haben, ist nur mehr die Verzweiflung geblieben. Die Iraker sind müde geworden, oft hält sie gerade noch ein Gedanke aufrecht: Auswanderung! Keine Arbeit, kein Geld, keine Hoffnung auf ein friedliches, ein besseres Leben - das alles zwingt sie, ihrer Heimat den Rücken zu kehren. Australien oder Kanada heißen die Ziele, oder aber auch eines der arabischen Nachbarländer. Die Chancen auf Verwirklichung dieser Pläne sind allerdings nicht sehr groß.

Ein pensionierter irakischer Ingenieur meinte zum Jahrestag der Befreiung seiner Heimat: "Seit zwölf Monaten bin ich von meinem Leitungswasser befreit, ich bin vom elektrischen Strom befreit und ebenso von meinem Telefon, vielleicht werde ich bald von meinem Leben befreit sein." Junge Männer, die zu Iraks verlorener Generation zählen, die drei Kriege in ihrem kurzem Leben miterleben mussten, wachen nachts von Albträumen geplagt auf: "Das Gespenst des Krieges wird uns unser Leben lang verfolgen." Und eine Ärztin meint resignierend: "Der Krieg geht weiter, für uns ist er noch lange nicht zu Ende." Sie hat recht: Im Irak ist ein Ende des Krieges nach dem Krieg noch lange nicht abzusehen.

aus OMEGA NEWS 28

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