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Irak im Jahr 2007

Bericht der IPPNW Österreich

Im Artikel 55 der 4. Genfer Konvention zum Schutz der Zivilpersonen in Kriegszeiten heißt es: »Die Besetzungsmacht hat die Pflicht, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungs- und Arzneimitteln mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sicherzustellen; insbesondere hat sie Lebensmittel, medizinische Ausrüstungen und alle anderen notwendigen Artikel einzuführen, falls die Hilfsquellen des besetzten Gebietes nicht ausreichen.«

Wie die Wirklichkeit im besetzten Irak im Jahr 2007 aussieht, erfahren wir kaum aus den Medien, im Folgenden dazu einige Daten: Ca. 8 Millionen Iraker leben von weniger als einem Dollar pro Tag, ca. 40 % der irakischen Bevölkerung sind von einer monatlichen Zuwendung von Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl und Öl, abhängig. Die unsichere Lage im Land hat dazu geführt, dass diese Nahrungsmittel entweder nicht in ausreichender Menge oder überhaupt nicht die erreicht, für die sie bestimmt sind, darüber hinaus wurde das Budget für diese Grundversorgung im Vorjahr von vier auf drei Milliarden Dollar gekürzt. Die Arbeitslosigkeit dürfte irgendwo bei 60 % liegen – offizielle Statistiken gibt es nicht. Bauern können ihre Felder nicht mehr bestellen, weil sie immer wieder Opfer von Überfällen während der Feldarbeit werden.

Die irakische Stromversorgung ist von einer jährlichen Produktion von 4300 Megawatt vor März 2003 auf 3700 Megawatt gesunken. Die Haushalte bekommen zwischen einer halben Stunde und sechs Stunden täglich elektrischen Strom. Spitäler und Schulen hängen von Dieselgeneratoren ab, die sehr häufig defekt sind. Der Benzinpreis ist jetzt vierzigmal höher als vor dem Krieg, vor den Tankstellen stehen endlose Autoschlangen, da Benzin oft nicht verfügbar ist.

65 % der Wasserleitungen des Landes sind defekt, so dass es zum Einsickern von Abwasser in das Leitungssystem kommt. Das Leitungswasser ist nahezu nirgends im Land trinkbar, ganze Stadtviertel in Bagdad sind wochenlang von einer Wasserversorgung abgeschnitten. Die Menschen holen sich Trinkwasser aus den Flüssen, Irak im Jahr 2007 – eine Land ohne Zukunft in die ungefiltert Abwässer geleitet werden. Die Folge sind unzählige Todesfälle infolge von Durchfällen, vor allem bei Kindern. Ein ganz besonders trauriges Kapitel ist das irakische Gesundheitssystem. Aufgrund der jahrelangen Sanktionen gegen das Land waren die Verhältnisse im Gesundheitsbereich bereits vor dem letzten Krieg im Jahr 2003 äußerst besorgniserregend. Seither kam es zu einer neuerlichen, dramatischen Verschlechterung. Es gibt keine offiziellen Statistiken im Land, aber Schätzungen gehen davon aus, dass innerhalb der letzten vier Jahre die Hälfte der Ärzteschaft das Land verlassen hat. Hunderte Ärzte wurden ermordet, die Morde und das Kidnapping von Ärzten und Akademikern gehen weiter. Den Spitalsärzten wurde empfohlen, sich zu bewaffnen, manche haben Leibwächter, um ihren Beruf auszuüben. Weibliches Krankenpflegepersonal kann aufgrund der schlechten Sicherheitslage kaum mehr den Beruf ausüben. Die Spitäler Bagdads wurden »killing fields of Iraq« bezeichnet. Häufig von Milizen kontrolliert, geschehen unzählige Morde innerhalb der Spitalsmauern.

Andere Spitäler, ganz besonders im Süden des Landes – wo viele Binnenflüchtlinge Zuflucht suchen - quellen über von Patienten. In pädiatrischen Abteilungen liegen mittlerweile mehr Patienten auf dem Boden als in den Betten. Es mangelt an Medikamenten, Hygienematerial und allen anderen medizinischen Bedarfsmitteln. Aufgrund der unsicheren Straßen wagen viele Kranke kaum den Weg in die Spitäler. Die Regierung in Bagdad hat keine Kontrolle über den Süden des Landes und das Gesundheitsministerium fühlt sich offenbar für die Spitäler im Süden kaum mehr zuständig. Anfang Februar 2007 wurde der Vize-Gesundheitsminister verhaftet, weil er beschuldigt wird, Millionen von Dollar aus dem Gesundheitsetat abgezweigt und an Milizen gezahlt zu haben, weiters habe er diesen erlaubt, Ambulanzwägen zum Waffentransport zu verwenden und Spitäler zum Tatort von Morden und Kidnapping zu machen. Indes ist die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren – ein sehr sensibler Parameter für die Gesundheitsversorgung eines Landes - eine der höchsten dieser Erde und auch die Zahl der unterernährten Kinder steigt beständig. Die Schulbesuchsrate beträgt nur mehr 30 %, ungezählte Kinder leiden an psychosomatischen Erkrankungen und Angstzuständen.

Zwischen 2000 und 3000 Menschen werden monatlich im Irak ermordet, im gleichen Zeitraum verlassen etwa 50.000 ihren Wohnort, Monat für Monat. Syrien kann die Last der mehr als 1 Million Flüchtlinge kaum mehr tragen, es ist eine Frage der Zeit, wann es seine Grenzen für Iraker schließen wird, Jordanien hat dies mehr oder minder bereits getan. Wer viel Geld hat, vertraut sich um $ 15.000 einem Schlepper an, der einen nach Schweden bringt – Schweden rief bereits die EU um Hilfe, weil es dem Ansturm von irakischen Asylsuchenden nicht mehr gerecht werden kann. Im Jahr 2006 haben 9.065 Iraker in Schweden um Asyl angesucht, 20.000 werden für heuer erwartet. Zwischen 2003 und jetzt haben im Gegensatz dazu die USA insgesamt 663 Iraker aufgenommen.
Der Irak heute ist ein Land des sozialen Zusammenbruchs, ein Land der Sterbenden und der Toten, ein Land der Verzweifelten. Dort leben noch immer geschätzte 25 Millionen Menschen, die tagtäglich Todesangst ausstehen und sich jeden Morgen fragen, ob sie den Abend dieses Tages noch erleben werden, ein einziger Gedanke hält sie noch aufrecht: der Gedanke an die Flucht.

Was macht die internationale Gemeinschaft? Sie schweigt und schaut weg, genauso wie sie während des Embargos gegen den Irak, das von einem Mitglied der UN-Menschenrechtskommission als die »schlimmste humanitäre Katastrophe der unmittelbaren Vergangenheit und Gegenwart« bezeichnet wurde, schwieg und wegschaute. Diese Katastrophe wird bald übertroffen werden, denn offenbar kennt niemand eine Zukunftsperspektive für den Irak.

Dr. Eva-Maria Hobiger

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